Der "Wille zur Macht"
kein Buch von Friedrich Nietzsche


Herausgegeben von Bernd Jung auf der Grundlage der Digitalen Kritischen Gesamtausgabe



Rings nur Welle und Spiel.
Was je schwer war,
sank in blaue Vergessenheit,
müssig steht nun mein Kahn.
Sturm und Fahrt — wie verlernt er das!
Wunsch und Hoffen ertrank,
glatt liegt Seele und Meer.


Dionysos-Dithyramben
Warum beschrieb Nietzsche seine Konzeption des "Willens zur Macht" in keinem seiner Werke in ausführlicher Weise? Warum setzte er keinen seiner Buchentwürfe in die Tat um?

Natürlich begeben wir uns jetzt ins Spekulative, aber wahrscheinlich war er mit den Ergebnissen seiner Arbeit einfach nicht oder noch nicht zufrieden. Er brach nämlich den ausführlichsten Entwurf kurz vor Fertigstellung einfach ab (drittes Kapitel). Er hatte zunächst alle 372 zu berücksichtigenden Texte durchnummeriert und dann die Nummern 1 – 300 jeweils einem der geplanten vier Kapitel zugewiesen (12[1]). Genau bei 300 endet diese Zuordnung. Zunächst mag das ganz prosaisch daran gelegen haben, dass er zwei Notizhefte abgearbeitet hatte und mit dem dritten und letzten später fortfahren wollte. Dazu kam es aber nicht mehr. Offensichtlich war er mit dem Resultat unzufrieden, denn er schrieb hierüber an Köselitz (13.02.1888): "Zehn Jahre später will ich's besser machen".

Tatsächlich hatte Nietzsche zwei Jahre früher in der Vorrede zum zweiten Band von "Menschliches, Allzumenschliches" (1886) geschrieben: "Man soll nur … von dem reden, was man überwunden hat … Insofern sind alle meine Schriften … zurück zu datieren — sie reden immer von einem 'Hinter-mir' ..." Wir können also davon ausgehen, dass der "Wille zur Macht" noch nicht hinter ihm lag, dass er ihn noch nicht "überwunden" hatte.

Sicherlich widerstrebte ihm auch die Idee, seine Philosophie systematisch zu untermauern und darzustellen. So definiert er in Kapitel drei (9[181]): "ein Systematiker, ein Philosoph, der seinem Geiste nicht länger mehr zugestehen will, daß er lebt, daß er wie ein Baum mächtig und breit und unersättlich um sich greift, der schlechterdings keine Ruhe kennt, bis er aus ihm etwas Lebloses, etwas Hölzernes, eine viereckige Dummheit, ein 'System' herausgeschnitzt hat — " und später (10[146]): "An dieser Stelle weiterzugehn überlasse ich einer andern Art von Geistern als die meine ist. Ich bin nicht bornirt genug zu einem System — und nicht einmal zu meinem System ... ".

Mancher Satz klingt auch wie eine – sicher völlig unbewusste – Kritik am eigenen Konzept, z. B. im dritten Kapitel, 9[60]: "Wer seinen Willen nicht in die Dinge zu legen vermag, der Willens- und Kraftlose, der legt wenigstens noch einen Sinn hinein: d.h. den Glauben, daß schon ein Wille darin sei, der in den Dingen wirken und wollen soll."

Der vorletzte Text in Kapitel vier beinhaltet eine Selbstdarstellung, aus der dann das Buch "Ecce homo" hervorging. Leider bestätigt auch Nietzsche die Regel, dass jemand, der ein Buch über sich selbst schreibt, mit seiner eigentlichen Arbeit am Ende ist.

Dennoch bleibt es schade, dass er gerade die psychologischen, biologischen und erkenntnistheoretischen Implikationen des Konzeptes "Wille zur Macht" nicht weiter ausgearbeitet hat, sondern statt dessen seine letzte Energie in Bücher steckte, in denen er, der Entdecker der moralischen Relativität, das Christentum im Endeffekt als etwas Unmoralisches wütend bekämpfte, oder in denen er sich mit dem toten Richard Wagner auseinandersetzte. Beides kann man als verspätete Ablösung von seinem viel zu früh verstorbenen Vater – einem protestantischen Pfarrer – bzw. von einem väterlichen Freund, dessen Entwicklung ihn enttäuscht hat, interpretieren. Beides ist aber nicht mehr wirklich von Interesse.

Was können wir heute also noch mit den vorliegenden Nachlasstexten Nietzsches zum "Willen zur Macht" anfangen?

 
pdf-Datei öffnen/herunterladen (1 MB)

Rechte

Impressum

Startseite