Der "Wille zur Macht"
kein Buch von Friedrich Nietzsche
Herausgegeben von Bernd Jung auf der Grundlage der Digitalen Kritischen Gesamtausgabe
Ein Buch zum Denken, nichts weiter: es gehört Denen, welchen Denken Vergnügen macht, nichts weiter ...
Nachlass, Herbst 1887 |
Was nützt uns diese Zusammenstellung? Sie bietet einen guten Überblick über die Entwicklung des Konzeptes "Wille zur Macht". Wir sehen Nietzsche bei der Arbeit. Im ersten Kapitel finden wir erste Entwürfe, zunächst noch ganz im Zarathustra-Stil geschrieben (13[10]), in denen er seine Perspektive im Widerspruch zu Darwins "Kampf ums Dasein" entwickelt. Und so beginnt alles mit einem Missverständnis: Nietzsche hat Darwins "On the Origin of Species" (1859) wohl nie selbst durchgearbeitet, sondern verließ sich auf das, was er darüber gelesen hatte – tatsächlich trifft dies sowohl für Darwins wie auch für Nietzsches eigene Werke bis heute auf die meisten Menschen zu ... So kam es, dass er nicht sah, dass der "Wille zur Macht" eben nicht im Widerspruch zum "survival of the fittest" steht, was fälschlicherweise meist als das Überleben der Stärksten interpretiert wird. Eigentlich ergänzen sich die beiden Konzepte sehr gut, denn gerade in der Psychologie und der Biologie stellt der "Wille zur Macht" eine eigenständige und nützliche Perspektive dar, die – wäre sie nicht durch die bisherige Nietzsche-Rezeption und insbesondere durch den Missbrauch im dritten Reich stark in Verruf geraten – sehr konstruktiv eingesetzt werden könnte. Andererseits: Was ist Richard Dawkins Konzept des "egoistischen Gens" (1976) anderes als eine spezialisierte Variante des "Willens zur Macht"? Nietzsche nahm auch Fragen der modernen Psychologie vorweg. So wird z. B. im Text "Psychologie des Irrtums" (zweites Kapitel, 7[1]), diskutiert, ob unser Bewusstsein wirklich die Hoheit über unsere scheinbar bewusst gefällten Entscheidungen hat. Nietzsche bestreitet dies und nimmt damit eine Position ein, die heute von vielen Psychologen auf Grund der experimentellen Resultate Benjamin Libets (1979) vertreten wird. Hier wie auch in anderen Fällen muss man feststellen, dass Nietzsche mit vielen seiner Fragestellungen zu früh kam, z. B. mit seiner Überzeugung, dass es keine gott- oder naturgegebene Moral gibt, sondern dass jede Moral die Existenzbedingungen einer spezifischen Gesellschaft zu einer bestimmten Zeit ausdrückt. Sein vehementer und teilweise maßloser Kampf gegen das Christentum wäre einfach überflüssig gewesen, wenn er diese These beispielsweise in den Zwanzigerjahren veröffentlicht hätte. Auch sein Satz "Ein und dasselbe zu bejahen und zu verneinen mißlingt uns: das ist ein subjektiver Erfahrungssatz, darin drückt sich keine 'Nothwendigkeit' aus, sondern nur ein Nicht-vermögen" (drittes Kapitel, 9[97]) klingt nicht mehr paradox, wenn man den Unvollständigkeitssatz des Mathematikers Kurt Gödel (1931) kennt. Die von Nietzsche versuchten Anwendungen in Physik und Chemie sind naturwissenschaftlich eher uninteressant. Für die Untermauerung seiner durchaus interessanten Gedanken über Ursache und Wirkung in der Physik wie auch der Frage, was Naturgesetze denn überhaupt sind, fehlten ihm ersichtlich die wissenschaftlichen Grundlagen: einerseits aufgrund einer diesbezüglich mangelhaften Ausbildung – die von ihm besuchte Internatsschule Pforta vermittelte nur die "klassische Bildung" – andererseits, weil zu seiner Zeit weder die statistische Thermodynamik noch die Quantentheorie anerkannt bzw. entwickelt waren. Mit seiner skeptischen Haltung gegenüber der Existenz von Atomen stand er allerdings nicht allein. Selbst Max Planck (1858 – 1947) ging zunächst noch davon aus, dass Materie ein Kontinuum sei. Um solche Themen weiter zu verfolgen, fehlten Nietzsche auch geeignete Gesprächspartner. Unter seinen Bekannten fand sich kaum ein Naturwissenschaftler. Dies ist sehr bedauerlich angesichts der Tatsache, dass in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts Physik und Chemie riesige Fortschritte machten und die besten Köpfe anzogen. Stattdessen setzte er sich mit Literaten, Philologen, Philosophen und Musikern auseinander und beklagte sich, dass er nicht verstanden wurde. Außerdem wirkten Nietzsches Thesen und Ausdrucksformen (z. B. der Übermensch) abstoßend auf Leute wie den Physiker Ernst Mach (1838 – 1916), der seinen erkenntnistheoretischen Positionen eigentlich sehr nahe stand, ebenfalls ein Gegner der "Atomistik" war und dessen Bücher er gelesen hatte. Es ist für einen Naturwissenschaftler auch schwierig, sich ernsthaft beispielsweise mit Nietzsches grotesker Überschätzung des Einflusses seiner Idee der ewigen Wiederkunft auseinanderzusetzen (z. B. Kapitel 3, 9[8]). Dennoch bleibt die Frage: Warum beschrieb Nietzsche seine Konzeption des "Willens zur Macht" in keinem seiner Werke in ausführlicher Weise? Warum setzte er keinen seiner Buchentwürfe in die Tat um? |
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