Der "Wille zur Macht"
kein Buch von Friedrich Nietzsche


Herausgegeben von Bernd Jung auf der Grundlage der Digitalen Kritischen Gesamtausgabe



... ich unterschied Zeiten, Völker, Ranggrade der Individuen, ich spezialisirte mein Problem, aus den Antworten wurden neue Fragen, Forschungen, Vermuthungen, Wahrscheinlichkeiten: bis ich endlich ein eignes Land, einen eignen Boden hatte, eine ganze verschwiegene wachsende blühende Welt, heimliche Gärten gleichsam, von denen Niemand Etwas ahnen durfte... Oh wie wir glücklich sind, wir Erkennenden, vorausgesetzt, dass wir nur lange genug zu schweigen wissen!

Zur Genealogie der Moral
Schon der Titel macht klar, was dies nicht ist: ein Buch von Friedrich Nietzsche. Das ist eigentlich selbstverständlich, denn Nietzsche hat bekanntlich nie ein Werk mit dem Titel "Der Wille zur Macht" publiziert, obwohl er es längere Zeit geplant und mehrere Entwürfe dafür gemacht hatte. Es gibt zwar ein Buch gleichen Namens, herausgegeben von seiner Schwester und seinem früheren Freund und Helfer Heinrich Köselitz alias Peter Gast, aber zur Unbrauchbarkeit dieses Kompilats haben Giorgio Colli und Mazzino Montinari im Kommentar zu Band 6 ihrer Kritischen Studienausgabe (Friedrich Nietzsche: Sämtliche Werke, Kritische Studienausgabe in 15 Bänden, Deutscher Taschenbuch Verlag) alles Notwendige gesagt.

Wenn dies also kein Buch von Friedrich Nietzsche ist, was ist es dann?
Es handelt sich um eine Auswahl aus seinem Nachlass. Genauer:

Das erste Kapitel enthält alle Texte der Digitalen Kritischen Gesamtausgabe, Nachgelassene Fragmente 1882 – 1885, Gruppen 5 – 45, sowie 1885/86, Gruppen 1 – 6, die den Ausdruck "Wille zur Macht" in beliebigen Deklinationsformen enthalten. Die Auswahl erfolgte mittels eines speziell hierfür entwickelten Computerprogrammes. Es wurden also alle Texte der Digitalen Kritischen Gesamtausgabe aus diesem Zeitintervall automatisch nach solchen Ausdrücken durchsucht. Der Fund einer passenden Stelle führte zur Übernahme des gesamten betreffenden Textes. Inzwischen wurden auch alle älteren Nachlasstexte durchsucht und die wenigen entsprechenden Treffer in der zweiten Auflage am Anfang dieses Kapitels eingefügt: Die erste Erwähnung des Begriffs „Wille zur Macht“ erfolgte 1876/77.

Das zweite Kapitel enthält die Texte der Gruppen 7 und 8 aus den Jahren 1886/87, die Nietzsche laut Colli und Montinari für seinen letzten Plan zum Buch ausgewählt hatte. Dieser Plan (siehe viertes Kapitel, 18[17]) stammt vom 26. August 1888.

Interessanterweise hatte Nietzsche nach dem Verfassen der im zweiten Kapitel wiedergegebenen Texte und vor dem dazugehörenden letzten Entwurf einen wesentlich umfangreicheren Versuch zu einem Buch unternommen. Die betreffenden Texte aus den Jahren 1887/88, Gruppen 9 – 12, und der sie abschließende Entwurf finden sich im dritten Kapitel.

In die Kapitel zwei und drei wurden zusätzlich solche Texte computerunterstützt aufgenommen, welche – wie für das erste Kapitel beschrieben – den Ausdruck "Wille zur Macht" in beliebigen Deklinationsformen enthalten.

Das letzte Kapitel enthält Texte aus den Jahren 1888/89, Gruppen 13 – 25 (also bis zu Nietzsches Zusammenbruch), die ebenso wie die des ersten Kapitels ausgewählt wurden.

Sehr selten wurden Korrekturen am Wortlaut der Digitalen Kritischen Gesamtausgabe vorgenommen, nämlich dann, wenn gegenüber der Kritischen Studienausgabe offensichtliche Fehler vorlagen, z. B. drittes Kapitel, 9[72], " ... als höchste Gefahr Gottes ..." ("Gefahr" wieder eingefügt).

Warum wurden insbesondere das erste und das vierte Kapitel so "automatisiert" erstellt, d.h. warum wurden nicht auch andere Texte aufgenommen, die zwar den Begriff nicht enthalten aber in inhaltlichem Zusammenhang mit dem Willen zur Macht stehen?
Gegenfrage: Im Zusammenhang mit welchem "Willen zur Macht": dem philosophischen Konzept oder den verschiedenen Buchentwürfen gleichen Namens?
Wie schon anhand dieser einfachen Frage zu ersehen, kommt man bei dem Versuch einer solchen Auswahl immer in die Versuchung oder wird fast dazu gezwungen, selbst zu interpretieren und quasi mit Nietzsches Texten eine eigene Philosophie zu entwickeln, wie es seine Schwester und ihr Helfer tatsächlich getan haben.
Aus diesem Dilemma kann man sich mit dem oben beschriebenen, automatisierten Verfahren retten. Es liefert eine Auswahl, die nicht subjektiv verzerrt ist. Wer noch tiefer einsteigen will, der sollte den von Colli und Montinari publizierten Nachlass nebst deren wertvollen Kommentaren zur Hand nehmen.
Aus dem gleichen Grund wurde auch stets die chronologische Reihenfolge gemäß der Kritischen Gesamtausgabe beibehalten und nicht etwa der Versuch unternommen, beispielsweise im dritten Kapitel die Texte anhand Nietzsches – unvollständigem – Entwurf (12[1] und 12[2]) zu gruppieren.

Was nützt uns diese Zusammenstellung?

 
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